Selbstliebe oder Weltliebe?

„Unsere Berufung zu entdecken, bedeutet, genau den Punkt zu finden,
wo unsere eigene tiefe Freude sich trifft mit dem tiefen Verlangen der Welt.“
(Frederik Büchner)

2018 durfte ich mich bei einem entstehenden Sammelband aus authentischen Lebensgeschichten junger Menschen, die sich für gesellschaftlichen Wandel einsetzen, als Lektorin ausprobieren. Dabei durfte ich auch diese Geschichte von Mala bei der Entfaltung ihrer vollen Schönheit begleiten. Sie hat mich so berührt, dass ich die Verfasserin gebeten habe, sie hier teilen zu dürfen. In Dankbarkeit für Inspiration und Austausch, Alma

Die Begegnung mit einer kleinen Frau,

die etwas Großes tief in mir verändert hat ...

von Mala, 25.4.2018

Mir war durchaus bewusst, dass es soziale Ungerechtigkeit, Klimawandel und andere ökologische Probleme gibt. Das habe ich schon als Kind von meinem Papa gelernt. Er war vor meiner Geburt selbst engagierter Aktivist in Sachen Anti-Atomkraft und Teil der Friedensbewegung. Doch mittlerweile mündet sein Sinn für Gerechtigkeit nicht mehr in Tatkraft, sondern in Frustration und Resignation. Ich erinnere mich noch daran, wie er sich früher jeden Abend nach der Arbeit fluchend die Nachrichten angesehen hat. Ich schlussfolgerte viel daraus: dass nicht alle die gleichen Chancen haben, dass Menschen viel Leid erzeugen, weil sie sich bekriegen und die Natur zerstören, und dass es aussichtslos für jemanden wie mich ist, sich mit Politik zu beschäftigen oder sich für sozial-ökologische Gerechtigkeit zu engagieren. Das müssten andere tun: die Politiker, die Reichen, die Mächtigen. Dachte ich. Daher habe ich mich nach einigen Spendensammelaktionen in der Grundschule weitestgehend von Aktivismus ferngehalten.

Schon damals taten mir die toten Tiere auf meinem Teller Leid, aber das braucht es ja nicht, das ist eben so, nicht schlimm, iss Kind, du bist im Wachstum. Ich wusste auch, dass Fliegen umweltschädlich ist, aber wir haben ja immer brav das Licht ausgeschaltet, wenn es nicht genutzt wurde, und man gönnt sich ja sonst nix. So dachte ich auch Jahre später, als ich während meines Studiums nach Neuseeland flog, nicht daran, dass ich durch meinen Flug nahezu irreparable Umweltschäden verursachte. Paradoxerweise. Denn eigentlich war es meine Absicht, sowohl meiner inneren, als auch der äußeren Natur am anderen Ende der Welt näherzukommen. Damals drehte sich in meinem Leben alles noch um mein Studium, meine Partnerschaft, meine perfekte Zukunft. Doch diese Reise veränderte, was fortan im Mittelpunkt meines Lebens stehen würde.

Es war ein frühlingshafter Novembertag ...

… in der Innenstadt Aucklands, als Nalini in mein Leben trat. Sie begrüßte mich mit einem strahlenden Lächeln und funkelnden Augen: „Schau mal! Auf diesem Platz hier habe ich letztes Jahr den größten Tanz-Flashmob Neuseelands organisiert und choreographiert, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen!“

Ich war beeindruckt von ihrem kraftvollen und kreativen Engagement, und wusste gar nicht so recht, was ich sagen sollte. Dafür lauschte ich umso faszinierter den Geschichten, die sie mir in den folgenden Tagen, die ich als Couchsurferin und schon bald als Freundin bei ihr verbringen durfte, erzählte. Es waren Geschichten aus ihrem Leben und darüber, was für sie von Bedeutung war. Mit Tränen in den Augen schilderte sie mir, dass die Vögel, die sie im Rahmen eines Forschungsprojektes zählte, aufgrund von Umweltverschmutzung von Jahr zu Jahr weniger wurden. Dass viele Gewässer Neuseelands, aus denen man einst trinken konnte, nun nicht mal mehr zum Baden freigegeben waren. Dass es für Maori immer noch schwieriger war als für weiße Neuseeländer*innen, Arbeit zu finden, geschweige denn gut bezahlte. Ihre schlichte Traurigkeit, ihr Mitgefühl und ihre Entschlossenheit berührten mich. So sehr, dass etwas in mir in Bewegung kam und sich weitete. Und nach und nach wachte ich auf: aus dem kollektiven Traum, den der Großteil unserer westlichen Gesellschaft zu träumen scheint. Dem Traum, wir könnten einfach weitermachen wie bisher: Wirtschaftswachstum generieren, konsumieren, nehmen, so viel wir wollen, nur weil wir es können, egal, wer darunter leidet. Als würde das nicht den Planeten, auf dem wir leben, so tiefgreifend verändern, dass unser Überleben als Spezies gefährdet ist. Als würden wir nicht das Massenaussterben, in dem wir uns befinden, weiter vorantreiben. Als würden wir nicht das Geschenk der Erde, die uns Tag für Tag nährt, missachten.

Und ich wachte auf aus dem Alptraum, all das einfach hinnehmen zu müssen. Denn solange wir nicht aufgeben, besteht noch Hoffnung, dass wir es schaffen, eine ganz andere, ganz neue Zukunft zu gestalten. Eine Zukunft des friedlichen und respektvollen Miteinanders, eine Zukunft, in der sich der Boden regeneriert und in der alle haben, was sie brauchen, und nicht mehr als das nehmen.

Doch Nalinis Tränen um die Welt ...

… waren nur ein Teil ihres Antriebs, mit all ihrem Sein für diese „more beautiful world your heart knows is possible“ einzustehen. Wenn sie extra eine Stunde lang mit dem Bus bis ans andere Ende der Stadt fuhr, um bei einer SoLaWi[1] Bio-Gemüse einzukaufen, oder wenn sie an einem sonnigen Tag all ihre Computerarbeit liegen ließ, um mit dem Fahrrad am Ufer entlang zu fahren, wurde mir klar, dass es noch eine weitere Zugkraft in ihr gab: ihre Liebe für die Vielfalt der Erde und das Wunder, lebendig zu sein. Nalini brachte mir bei, auf dem Kopf zu stehen, und vielleicht war diese neue Perspektive auf die Welt hilfreich. Jedenfalls wurde mir bewusst, dass ich – wie jede*r von uns – bereits dabei war, die Welt zu verändern. Ob ich wollte oder nicht. Die Frage war nur: in welche Richtung?

Mala

Ich begriff, dass wir in einer Zeit zwischen zwei Geschichten leben, die unserer Kultur zugrunde liegen: zwischen dem Mythos der industriellen Wachstumsgesellschaft und der neuen Geschichte, die wir gerade erfinden. Ich wusste nicht, ob wir schnell und weise genug und genügend viele sein würden, um an dieser wohl größten globalen Krise der Menschheitsgeschichte nicht zu zerbrechen, sondern verwandelt daraus hervorzugehen. Aber ich war und bin fest entschlossen, es zu versuchen.

Das Wichtigste jedoch, was ich von Nalini lernte ...

… war nicht, dass wir dringend Veränderung brauchen, und auch nicht, dass wir verantwortlich sind, diese Veränderung zu gestalten. Das Wichtigste war, zu erkennen, dass es nicht zermürbend und aufopferungsvoll sein muss, sich für das einzusetzen, wofür unser Herz schlägt. Im Gegenteil: Es kann Spaß machen und zutiefst erfüllend sein.

„Don’t ask yourself what the world needs“, stand über einem Foto, auf dem Nalini im Sonnenuntergang Handstand machte. „Ask yourself what makes you come alive. Because what the world needs is people who come alive!”

Und so verband sie ihre Liebe zum Tanzen damit, Aufmerksamkeit auf den Klimawandel zu lenken, oder gab Workshops zu gewaltfreier Kommunikation auf Permakulturfarmen. Ich verstand, dass ich mich nicht entscheiden muss, entweder liebevoll zu mir selbst zu sein oder liebevoll zur Welt. Im Gegenteil: Ich kann nur liebevoll zu mir selbst sein, wenn ich auch liebevoll zur Welt bin, und ich kann nur liebevoll zur Welt sein, wenn ich auch liebevoll zu mir selbst bin. Denn ich bin ein Teil der Welt. So entschied ich mich, meinen persönlichen Beitrag zur Heilung dieser Welt in den Mittelpunkt meines Lebens zu stellen. Und zwar auf eine Art und Weise, die mich selbst lebendig macht.

[1] Solidarische Landwirtschaft

Über die Verfasserin

Als Initiatische Prozessbegleiterin in Ausbildung begleitet Mala Menschen auf der Suche nach ihrer wilden Gabe, nach ihrem freudigen Geschenk an die mehr-als-menschliche-Gemeinschaft. Mit Hilfe von Tiefenökologie (nach Joanna Macy), Naturverbindungsarbeit, Connective Leadership, Prozessbegleitung und Yoga gestaltet sie Räume, in denen wir uns für die Wunden und Wunder der Welt öffnen können. Sie ist Mitinitiatorin des Gemeinschafts- und Projekthauses „Spinnerei“ bei Göttingen.

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