Menschliche Nähe in anonymen Massenstädten?
Kennst du das: Du sitzt in der Bahn, lässt den Blick schweifen und da schaut ein anderer Mensch gerade zufällig in deine Richtung? Manche Blicke treffen sich kurz und schweifen weiter, andere weichen einander sofort aus und wieder andere bleiben einen Moment hängen. Vielleicht begegnen sie sich sogar für ein paar Sekunden.
„105.000 Menschen in 143 Städten” waren mit dabei, behauptete das ZDF über das weltweite Augen-Kontakt-Experiment 2015. Wir haben es auf dem Alexanderplatz mitten in Berlin gewagt und später noch an anderen spannenden Orten: eine Minute Augenkontakt mit einem Fremden.
16.30 Uhr
Im trüben Licht eines herbstlichen Donnerstagnachmittags drängen sich um die fünfzehn Menschen unter der Weltzeituhr zusammen, scheinbar schutzsuchend vor der Kälte. Der sonst menschenüberfüllte Alexanderplatz ist nahezu leergefegt: eine Fläche aus grauschwarzem Stein und nassgrauem Nieselschleier, immer mal durchschnitten von neonfarbener Reklame und dem schrillen Bimmeln einer Tram. Hier und da huscht ein*e gehetzte*r Großstädter*in vorbei. Die Touris drängen sich unter die Vordächer. Mit gemischten Gefühlen überqueren Andreas und ich den Platz: Skepsis und Neugier, Genervtheit und Vorfreude. Schweigend tauschen wir Blicke aus. Ja, wir denken beide: „Warum liegen wir jetzt nicht kuschelnd und mit heißem Tee auf dem Sofa? Warum gehören wir unter den Fünftausend, die sich in facebook für die Veranstaltung in Berlin angemeldet haben, zu den wenigen Bekloppten, die tatsächlich kommen?“
Vielleicht aus Idealismus und Menschenliebe, oder weil wir es einfach besser wissen als unser nölender Schweinehund: Für diese tiefen, menschlichen Begegnungen lohnt es sich, die Bequemlichkeit zu überwinden.
Wir treten zu den Menschen in Regenjacken und dicken Schals unter der Weltzeituhr. Und tatsächlich: Hier herrscht Aufbruchsstimmung! Der Organisator des Flashmobs in Berlin, Armin B., ist guter Dinge und verbreitet auch gute Laune mit seinem Schild „Is Human Connection Waterresistant?“ und Sprüchen wie: „When the weather isn’t with us, we have to be with the weather.”
16.45 Uhr
Armin B. und sein Team „Circling Deutschland“ besprechen mit uns Helfer*innen ein paar organisatorische Dinge, dann geht’s auch schon los mit Begrüßungsspielen zum Aufwärmen: Warm-up für den Kontakt mit sich und den anderen – und nebenbei wärmt es auch die kalten Füße. Immer mehr Menschen kommen hinzu. Binnen Minuten sind wir über dreißig Spielende.
17 Uhr
Das Augen-Kontakt-Experiment startet: Für den Anfang setzen sich drei Mutige, jede*r mit Decke und zwei Sitzkissen, unter die Weltzeituhr. Dort ist es weitestgehend trocken und windgeschützt. Die anderen spielen erst mal im Stehen. So erobern wir langsam, aber sicher die freie Fläche. Nachdem ich ein paar Freund*innen und Bekannte begrüßt habe, packt mich eine große Spielfreude. Ich sehe mich um.
„Es regnet nicht mehr“, freue ich mich.
„Der Boden auf dem Alexanderplatz ist nass und kalt“, nölt mein Schweinehund.
„Wozu habe ich zwei solide Plastiktüten und dicke Decken mitgebracht?“, strahle ich ihn gewinnend an. Da verzieht er sich samt restlicher Skepsis, und ich richte mir mein Plätzchen her und lade gleich einen Bekannten zum Augenkontakt ein, um schon mal warm zu werden. Und dann sitze ich da tatsächlich fast zwei Stunden: bis kurz vor 19 Uhr, als das Team „Circling Deutschland“ das Experiment offiziell beendet. Im Abschlusskreis sind wir über hundert Menschen – viele haben sich auch schon vorher auf den Heimweg gemacht, mit kalt gewordenen Nasen und warm gewordenen Herzen.
Was geschieht in diesen zwei Stunden?
Zwischendurch nieselt es. Ich merke es erst später an meiner nassen Hose, so sehr vertiefe ich mich in die Augen der fremden Menschen. Dabei ist das gar nicht so einfach bei dem zunehmenden Gewusel um mich herum: Neugierige Passant*innen stellen Fragen, aufgeregte Experimentierende tauschen sich lautstark über ihre Erlebnisse aus, feixende Jugendliche stupsen uns sogar während des Kontakts provokant an. Und dann ständig die Blitzlichter! So viele Menschen fotografieren. Als wäre es ein Fotowettbewerb und kein Kontaktexperiment. Hin und wieder bin ich sogar kurz davor, einen Kontakt abzubrechen, um eine*n neben mir stehende*n Raucher*in zu bitten, ein paar Schritte weiter weg zu gehen und mir Sitzenden die Zigarette nicht unter die Nase zu halten. All das Gequatsche und Tramgebimmel auszublenden und ganz bei dem Menschen mir gegenüber anzukommen ist für mich eine echte Herausforderung. Doch immer, wenn es gelingt, geschieht etwas, das sich wunderbar anfühlt.
Ein Stück von mir entfernt wird Musik angemacht und getanzt, um sich zwischendurch immer wieder aufzuwärmen. Seltsamerweise ist mir während des Kontakts gar nicht kalt. Danach und davor reibe ich öfters meine Beine und Hände heftig aneinander und hüpfe auch mal im Kreis herum. Doch meistens sitze ich einfach da, weil sich stets nach ein paar Sekunden wieder jemand auf die Decke mir gegenüber setzt.
Manche Menschen fragen mich nach dem Augenkontakt, wie ich das so empfinde. Es gibt ein paar interessante Gespräche, am meisten jedoch genieße ich die Momente, in denen ich wortlos ein fremdes Gesicht ergründen kann.
Wir sehen einander an.
Wir wollen nichts voneinander und brauchen nichts voneinander.
Wir sehen einander an.
Wir müssen nichts fordern und nichts verkaufen.
Wir sind da.
Wir müssen nichts darstellen und nichts sein,
außer in diesem Moment.
Wir sehen einander an.
Ich freu mich auf deinen Kommentar!
Warst du schon mal Teil eines Kontaktexperiments oder eines anderen Flashmobs für mehr Verbindung in der Welt? Wie ist es dir dort ergangen?
Du willst wissen, wie du an einem teilnehmen oder selbst eines in deiner Stadt organisieren kannst? Dann verbinde dich mit Menschen wie denen von „Eye Contact Experience Berlin“ oder mit „The Liberators“, den Initiator*innen des weltenweiten Augen-Kontakt-Experiments 2015, von dem ich hier berichtet habe. Die verschiedenen Gruppen sind unter diesen Schlagworten in verschiedenen social media zu finden und freuen sich über Interessierte.