„Dornröschen“ ist Kritik am Patriarchat

Märchenfiguren wie Schneewittchen oder Dornröschen sind keine hilflosen, braven Mädchen, sondern mutige Heldinnen, die sich in einer schwierigen, patriarchalen Welt zurechtfinden müssen und eine tiefe Transformation durchlaufen, um zur Frau zu werden. In ihren Geschichten geht es also nicht darum, sich von einem tollen Typen mit Pferd retten zu lassen.

Märchen sind mir eine echte Herzensangelegenheit

und oberflächliche Interpretationen und (oftmals pseudofeministische) Kritik ärgern mich immer wieder sehr, deshalb hier eine Perspektive von mir dazu:

Alte Volksmärchen sind sehr alte, symbolträchtige Geschichten, älter als das Patriarchat. Bevor sie aufgeschrieben wurden, wurden sie mündlich von Generation zu Generation weitererzählt. Dabei mögen sie sich von Zeit zu Zeit, von Mund zu Mund verändert haben, doch ihre wichtigsten Elemente, die Symbole, blieben augenscheinlich weitestgehend erhalten. Wer sich das bewusst macht und weiterforscht, kann auch herausfinden, dass Märchen wie „Dornröschen“ und „Schneewittchen“ Initiationsriten beschreiben, in denen das Mädchen zur Frau wird. Die Symbolebene: Das Mädchen muss „sterben“, um Frau werden zu können. Denn Transformation ist ein „stirb und werde“. Die Raupe muss sterben, um ein Schmetterling zu werden.

Wenn wir etwas an diesen alten Volksmärchen kritisieren wollten, dann vielleicht, dass diese sehr alten Geschichten im Laufe der Zeit (im Zuge des Patriarchats) stellenweise und manchmal sogar radikal verändert und dem patriarchalen Denken angepasst wurden. So wurde z.B. Schneewittchens Mutter zur bösen Stiefmutter und Hexe gemacht. Die Ur-Mär hingegen hat von einer Mutter erzählt, die ihre Tochter zur Initiation in den Wald schickt und sie dort Prüfungen unterzieht. Ursprünglich war das und die Todeserfahrungen dort Teil des Initiationsrituals. Die Mutterfigur handelte folglich nicht aus Bosheit, im Gegenteil. Zu einer Zeit nun, in der es keine Initiationsrituale mehr gab (und gibt), wurde die Geschichte verändert weitererzählt. Die Grimms selbst nahmen diese Veränderung vor. Es brauchte wohl einen neuen Grund, warum all das mit Schneewittchen geschieht, und da musste die Stiefmutter eben als die Böse herhalten.
Solche Veränderungen können wir kritisch betrachten. Aber z.B. die gängige Behauptung, Frauenfiguren in Märchen hätten nur hübsch auszusehen und würden allein mit Sexappeal ihren Prinzen und ihr Happy End bekommen, ist schlichtweg falsch. Allein „Schönheit“ auf das bloße Äußere zu beziehen und nicht auf die Ausstrahlung und das gute Herz, ist eine extrem oberflächliche Interpretation, die leider immer noch weit verbreitet ist und sich endlich mal zugunsten eines tieferen Verständnisses dieser überlieferten Geschichten auflösen darf. Beim Kamm und dem Schnürriemen und selbst bei den Attributen von Schneewittchen geht es jedenfalls nicht um äußere Schönheit. „Wangen weiß wie Schnee, Lippen rot wie Blut und Haar schwarz wie Ebenholz“ – weiß, rot und schwarz, das sind die Farben der Großen Göttin.

Märchenwelten sind Innenwelten

In alten Volksmärchen wie „Eisenhans“ oder „Schneeweißchen und Rosenrot“ können wir historisch Wertvolles über unsere Ahnen und deren Lebensweisen erfahren. Laut der Ethnologin Ursula Segghezzi entstanden sie in der Jungsteinzeit und erzählen auch von der damaligen polygamen Lebensweise, wenn wir ihre Urform herausschälen.
Und zugleich: Nach meinem Verständnis beschreiben Märchen keine Alltagswelt, sondern Innenwelten. Tiefe seelische Prozesse, die in jedem Menschen (unabhängig von Kultur, Geschlecht usw.) stattfinden können – und zwar auf individueller, persönlicher Ebene ebenso wie auf kollektiver. Wenn darin (und in Interpretationen) Begriffe wie „Mann“, „Frau“, „weiblich“, „männlich“, „androgyn“ usw. vorkommen,  sind damit weder biologisches noch soziales Geschlecht gemeint, sondern archetypische Qualitäten und Kräfte, die in jedem Menschen wirken. Um das zu differenzieren, spreche ich gern von „archetypisch weiblich“ oder „urweiblich“, verwende aber der Einfachkeit halber im Fließtext auch mal „weiblich“.

Ein Beispiel: „Dornröschen“ ist Kritik am Patriarchat

Die Ausgangssituation ist ein König, der Entscheidungen für die Geburtsfeier seiner Tochter trifft. – Symbolebene: König/ Königin steht für das (vor)herrschende Prinzip in der Welt zu dem Zeitpunkt. In dieser Geschichte, in dieser Innenwelt haben wir es also mit einem archetypisch männlichen (vor)herrschenden Prinzip zu tun, denn wie wir dort sehen: Die Königin, das archetypisch weiblich Prinzip, ist hier stumm, angepasst. Sie entscheidet nicht mit ihrem Gemahl gemeinsam, wer zur Feier eingeladen wird, und sie lehnt sich auch nicht gegen seine Entscheidungen auf.
Die Geburt zeigt: Da kommt etwas Neues in die Welt, und zwar eine Tochter. Hier wird also etwas Neues, Weibliches geboren. Etwa das Neue Weibliche? Ist es womöglich sogar das, was die patriarchale, die einseitig urmännliche Welt dringend braucht? Was sie verändern und wieder ins Gleichgewicht bringen wird? Doch um eine Transformation bewirken zu können, müssen wir oft erst selbst diese (oder zumindest eine) Transformation in uns vollziehen, so auch die Königstochter.

Aber erst einmal befinden wir uns zu Anfang des Märchens noch mitten in einer einseitig urmännlichen Welt, an der der König überdies festhält: Er hält an den 12 goldenen Tellern fest – die 12 ist ein Symbol für das archetypisch männliche Prinzip und auch Gold steht hier für archetypisch männliches Bewusstsein. Der König hätte ja auch eine andere Lösung finden können. Aber nein, es müssen die 12 goldenen Teller sein. Lieber lädt er die 13. Fee nicht ein – die 13 ist ein Symbol für das archetypisch Weibliche und die Fee ist eine mediale Frau, also eine sehr urweibliche Gestalt. Wir sehen: Der König schließt die Weiblichkeit aus. Und was passiert mit dem, was wir aus unserem Leben auszuschließen versuchen? Es gerät ins Unterbewusste und regiert uns von dort: Der König ist ohnmächtig gegen den Fluch der 13. Fee. Obwohl er alle Spindeln (ein weiteres Symbol für Weiblichkeit), also alle Weiblichkeit im Königreich zu zerstören versucht, gelingt es ihm nicht. Das Märchen erzählt hier auch: Das, was wir ausschließen, gerät in den Schatten, es wird dunkel und böse, d.h. es richtet sich aus dem Unbewussten gegen uns selbst.
Zum Glück ist das heranwachsende Dornröschen kein braves Mädchen und auch nicht (patriarchal-) verkopft, sondern hört auf ihr Inneres, folgt dem Ruf des Weiblichen und begibt sich eines Tages auf ihrer Suche in noch unbekannte Teile des Königsschlosses. Sie erforscht also auch das, was nicht (oder nicht mehr) bekannt ist.

Das mal als kleiner Einblick, wie diese alten Volksmärchen noch gelesen werden können. Wir müssen diese Geschichte(n) nicht so interpretieren. Wir können auch denken, dass die Geschichtenerzählerinnen alter Tage keine weisen Frauen waren und mit  „Dornröschen“ tatsächlich gemeint haben, Mädchen brauchen nur mal eine Runde schlafen und ein Typ löst all ihre Probleme, indem er mal kurz seinen Mund auf ihren drückt. Wir können aber auch tiefer schauen und uns fragen, wofür Dornröschen den (Todes)Schlaf braucht und welche Symbolik ein Kuss hat, und ob diese Geschichten vielleicht so lange (und somit das Patriarchat, aus dem wir uns gerade schälen) überlebt haben, weil der Verstand das Wesentliche daran eben nicht sofort erkennt – weil die tiefen Symbolbotschaften nun mal für die Seele bestimmt sind. Aber von „Seele“ versteht das Patriarchat und das in der westlichen Gesellschaft dominierende verkopfte, materialistische, mechanistische Weltbild nicht viel. Dafür müssen wir uns erst einmal auf die Suche machen und uns in die unbekannten Teile des Königsschlosses vorwagen wie Dornröschen. Womöglich sogar ins Dunkle, dorthin, wo auch das Magische, Mystische, Übersinnliche, eben all das archetypisch Weibliche hin verbannt worden ist.

Literaturhinweise zu Märchen

Meine Beschäftigung mit tiefenpsychologischer Märcheninterpretation begann vor Jahren mit den Büchern von Angela Seifert aus der Reihe „Mit Märchen leben“, die ich sehr gern gelesen habe (z.B. Rumpelstilzchen, Dornröschen). Lebendig und aufschlussreich! Auch die „Zeitbrille“, durch die die Bücher geschrieben wurden (erstmals 1983 erschienen), fand ich spannend und Angela Seifert für ihre Zeit sehr weitsichtig.
Ebenso hat mich „Die Wolfsfrau“ von Clarissa Pinkola Estés sehr gepackt, ein Buch voller Mythen u.a. über „Die Kraft der weiblichen Urinstinkte“. Ein Besteller, als es 1993 erstmals erschienen ist.
Wer noch tiefer tauchen will, kann außerdem „Der tiefe Brunnen“ von dem Psychotherapeuten und Astrologen Claus Riemann lesen, ein Buch, das Mythen und Märchen als Held*innenreisen astrologischer Archetypen aufzeigt.
Und wer nach zeitgemäßen, tiefen Fassungen alter Volksmärchen sucht, dem lege ich „Im Land der Seele“ von Ursula Segghezzi ans Herz, das neunzehn Grimms-Märchen für die Neue Zeit und zwar in Anbindung an die ursprüngliche Inititationsstruktur neu erzählt. Ich habe mich sofort in dieses Buch verliebt und werde es auf meinem Blog demnächst vorstellen. – Auf eine reiche Forschungsreise in die Tiefe!

~~~

Fotocredits: Chris Omourtzanis

Ein Gedanke zu “„Dornröschen“ ist Kritik am Patriarchat

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert